Windows 10 und die Süddeutsche Zeitung

Man würde meinen, dass die Technik-Sparte einer seriösen Zeitung wie der SZ von Journalisten gestaltet wird, die die Kunst der kritischen Distanzwahrung und der sachlichen Informationsweitergabe zu kontroversen Themen gelernt haben. Oder im Zweifel zumindest Fachleute (!) mit unterschiedlichen, aber begründeten Ansichten zu einem kontroversen Thema zu Wort kommen lassen.

Hrn. Hurtz von der SZ hat es heute mit seinem Artikel
“Heute noch geschenkt, bald richtig teuer”
(http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/windows-betriebssystem-heute-noch-geschenkt-bald-richtig-teuer-1.3095229)
zur kommenden Kostenpflichtigkeit von Windows 10 geschafft, technischen Journalismus in ungeahnte Tiefen zu führen. Und er hat den erreichten Tiefpunkt dann nochmal durch einen nachgeschobenen Online-Artikel
http://www.sueddeutsche.de/digital/microsoft-warum-sie-keine-angst-vor-windows-haben-muessen-1.2835023
tiefer gelegt.

Ich habe die genannten Artikel gleich dreimal lesen müssen, weil man es ja kaum für möglich hält, wie distanzlos sich die SZ – hoffentlich ungewollt – vor den Karren der Interessen Microsofts spannen lässt. Ich persönlich halte bekanntermaßen wenig von MS-PC-Produkten – das ist eine, nämlich meine Sache. Aber Artikel, in der die Presse in fast humorigem Ton die Werbe-Arbeit von MS verrichtet, ist eine andere. Ich erlaube mir, in diesem Fall ein großes Fragezeichen hinter die Seriosität der genannten Artikel und hinter die interne Qualitätssicherung bei der SZ zu setzen. Ehrlich, die Lektüre ist mir aufs Gemüt geschlagen – ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass die SZ so was publiziert. Der Frust macht ein wenig Polemik zur erneuten Gewinnung des inneren Gleichgewichts fast unerlässlich. Wohlgemerkt, mir geht es dabei gar nicht um Microsoft. Das vertritt wie jedes Unternehmen legitimerweise seine Interessen – und Windows 10 interessiert mich nun wirklich nur peripher. Mir geht es darum, wie abgrundtief schlecht die obigen Artikel sind.

Welche neutrale Sachinformationen liefert uns der erste der genannten Artikel, der sich in der heutigen Druckausgabe der SZ über 5 Spalten erstreckt und vom nicht bebilderten Teil der Seite etwa die Hälfte einnimmt? Genau zwei: Windows 10 wird ab August etwas kosten. Und MS hat das eigene Ziel von 1 Milliarde Upgrades bislang weit verfehlt. Das war’s. Dafür würde man wohl kaum 5 Spalten brauchen. Nun könnte sich an die Sachinformationen ja z.B. eine Gegenüberstellung begründeter (!) Argumente für und gegen ein Upgrade von Windows 10 anschließen. Aber was lesen wir?

Da ist zunächst wortgewaltig von “religiösem Eifer” und “Glaubenskriegen” der Gegner von Windows 10 die Rede. Wir erfahren unter Zuhilfenahme eines Zitats von Umberto Ecco von 1994 (!), dass die IT-Welt schon immer in 2, seit kurzem aber sogar 3 religiöse Lager geteilt sei: Apple-Anhänger, Windows 10- und Windows 7-Anhänger. Dass die schärfste Kritik an Windows 10 möglicherweise gar nicht von Apple- oder Windows 7 Anhängern kommt, muss man sich als Leser erst viel später aus der beiläufigen Erwähnung von Klagen deutscher Verbraucherschutz-Verbände erschließen.

Der Rest des verfügbaren Platzes wird durch die Wiedergabe von Einschätzungen des Leiters des Geschäftsbereichs für Windows von MS Deutschland zur Kritik an Win 10 in Anspruch genommen. Von diesem Herrn erfahren wir dann lang und breit, welche wenig stichhaltige Argumente die Windows 10 Gegner (angeblich) ins Feld führen – etwa “never touch a running system” (gemeint ist Windows 7). Das sitzt … ich reibe mir die Augen und bin echt betroffen. So hatte ich das Thema Windows 10 zwar noch nie gesehen; aber wenn ein Geschäftsführer von MS das sagt ….. Richtig beeindruckend, diese
saubere, gründliche Journalistenarbeit von der SZ ….

Und dann wird es wirklich interessant – es geht um “Die beiden zentralen Kritikpunkte an Windows 10 – Datenschutzbedenken und Zwangsupgrade”. Na, was erfahren wir wohl dazu? Ja, die halte der Leiter des Windows-Geschäftsbereichs Deutschland für “überschätzt”. Ach wirklich? Echt ???… das hätte ich nun überhaupt nicht erwartet…. Der journalistische Tiefgang des Artikels, der das alles kommentarlos weitergibt, beeindruckt mich immer mehr …

Und weiter: Wer wolle, könne ja die “meisten Überwachungsfunktionen abschalten”. usw., usw.. “Und was viele Nutzer als penetrante Aufforderung zum Upgrade empfunden haben” hält der Geschäftsführer von MS für ein vernünftiges Vorgehen. “Niemand sei … zwangsbeglückt worden”. Diese Botschaft freut sicher jeden, der mal versucht hat, die “Beglückung” durch Werkeln in der Wndows-Registry abzuschalten.

Die journalistische Meisterleistung von Hrn. Hurtz wird abschließend von der Wiederholung seiner Erkenntnis gekrönt, dass sich die Tech-Szene in Kürze in drei “Religionen” (Apple, Win 10, Win 7) teilen werde. Halt – da entdeckt der SZ-Journalist doch noch eine weitere Gruppe – nämlich die “Atheisten” – ja, liebe Leute, das sind wir, die mit Linux.

Wem der Salat an MS-Meinungswiedergabe als Haupt-“Information” des Artikels noch nicht gereicht hat, der konnte ergänzend einen 2-spaltigen Kasten mit Kleingedrucktem lesen, in dem die schöne neue Welt von Windows angepriesen wird: Nur noch laufende Updates eines ewigen Windows 10 und verbesserte Funktionen “eines bereits stimmigen Betriebssystems”. Ja, wer’s mag – wie offenbar besagter Redakteur der SZ – für den ist das halt das Höchste ..

In dieser begrenzten Logik bleibt die (IT-) Erde auch weiterhin eine Scheibe … sie wird in Zukunft nur viel runder und noch stimmiger. Never touch a running ideology … die religiösen Eiferer aus dem Apple und Win 7-Lager und wir, die “Atheisten” aus dem Linux-Lager, haben da nur noch nicht genau genug hingesehen. Der Abgrund am Rand der Scheibe ist jetzt dank ausführlicher Nutzungsklauseln sogar markiert und mit dem verbesserten Angebot kann man noch tiefer in ihn hineinsehen – kein Grund mehr ihn zu überschätzen … Danke, liebe SZ, für diese humorig verfasste “Information” – endlich habe ich es begriffen! Bleibt nur die Frage, warum Hr. Hurtz nicht einfach, kurz und prägnant geschrieben hat:

Liebe MS-Gläubigen, die ihr bisher der täglichen frohen Upgrade-Botschaft aus völlig unverständlichen bis ketzerischen Gründen nicht gefolgt seid: Beeilt euch mal – denn sonst muss MS den Klingelbeutel in der Gemeinde rumgehen lassen. Und wie wir aus gewöhnlich bestens informierten Kreisen der MS-Geschäftsführung erfahren haben, sind alle eure Motive, Windows 10 nicht einzusetzen, in der Nähe religiösen Eifertums angesiedelt, aber objektiv nicht nachvollziehbar. Die MS-Geschäftsführung weiß das – und natürlich auch, was wirklich gut für euch ist !! Ihr müsst es einfach nur glauben. Und Datenschutz in Europa und Deutschland ist ja eh’ schon immer überschätzt worden. Nun aber bitte gleich upgraden – damit MS seine Geschäftsziele erreicht. Sonst Strafgebühr ….

Das wäre wenigstens klar, ehrlich und platzsparend gewesen – und man müsste sich als Leser nach der Lektüre nicht verzweifelt die Frage stellen, ob Hr. Hurtz in seinem aufklärerischen Eifer schlicht nicht gemerkt hat, dass dieser Artikel auch aus der Werbeabteilung Microsofts stammen könnte. Bis 15:00 Uhr habe ich noch an Unbedarftheit geglaubt; aber dann wird von der SZ online noch ein weiterer Artikel nachgeschoben mit dem Titel: “Warum Sie keine Angst vor Windows 10 haben müssen”.

Einige Argumente werden auch in diesem Artikel wieder aus dem reichen Erkenntnisschatz von MS geliefert: Das Datenabgreifen erfolge ja im besten Interesse des Nutzers und würde nur in anonyme Statistiken einfließen. Wer die Nutzungsbedingungen ganz lese (was aber wegen der
Länge kaum einer tue) könne das begreifen. Und MS würde nie persönliche Mails durchsuchen, um Werbung zu schalten. Sagt MS – und dann wird es ja wohl stimmen und muss von der SZ unreflektiert verbreitet werden. Offen bleibt in diesem einseitigen Diskurs die Frage der Ketzer: Aber warum werden z.B. die Mails der Windows 10 User dann überhaupt auf MS-Server übertragen?

Ich selbst habe alle Nutzungsbedingungen von MS Win 10 sehr genau gelesen – auch das flankierende Service Agreement: Da bleiben eigentlich keine Fragen offen. Du akzeptierst als Nutzer, dass MS bei Standardeinstellungen und im Zweifel zu Wartungszwecken alle deine Daten auf eigene Server transferiert. Wozu? Tja, da muss der MS-Adept halt einfach glauben, dass das zu seinem Wohle ist. Zu platt? Stimmt, denn selbst Hrn. Hurtz kommt dann auf Seite 2 des Artikels der schlimme Verdacht, das selbst die bislang Gläubigen nicht so einfach von neuen Götzen zu überzeugen sein werden. Und die Predigt nimmt dann eine neue Richtung:

“Komfort gibt es nur im Tausch gegen Privatsphäre …jeder Zugewinn an Komfort geht mit einem kleinen Verlust an Privatsphäre einher. Das ist bei Google und Apple aber nicht anders.” Denn: Das mit dem Komfort funktioniert nur – Zitat – “wenn man bereit ist, einen Teil seiner Privatsphäre zu opfern. Es gibt gute Gründe, diese Entwicklung zu bedauern. Aber es gibt keinen guten Grund, allein Microsoft an den Pranger zu stellen, weil sie mit der Zeit gehen. Wer diesen Weg nicht mitgehen will, hat längst eine gute Alternative zu Windows und iOS. Sie heißt Linux.

Aha, Überraschung: Privatsphäre geht bei Einsatz von Windows 10 womöglich doch verloren – aber ich soll MS halt glauben, dass das zu meinem Besten ist. Und dass andere Anbieter von PC- und Smartphone -Betriebs-Systemen auch nicht besser sind, ist dabei ein wirklich tröstlicher und tiefer Gedanke von Hrn. Hurtz. Habt keine Angst, liebe Gläubigen …in den Paradiesen der zukünftigen IT werden wir alle gleich unfrei sein.

Der Artikel erteilt dann abschließend noch die Absolution für die Ketzer; moderne Botschafter von Betriebssystem-Religionen sind schließlich liberal. Denn wer die beschriebene Opferung der informationellen Selbstbestimmung auf dem Altar des Dogmas “Komfort hat den Preis der Privatsphäre” partout nicht einsehen wolle, könne sich ja (ganz im Sinne des ersten Artikels) als Atheist aus den genannten drei Kirchen abmelden – durch die Benutzung von Linux. Letzteres muss gemäß der Hurtz’schen Argumentation und Logik aber leider höllisch unkomfortabel sein.

Na dann, liebe Linuxer – auf ins Fegefeuer … da muss man wenigstens keinen miserablen Journalismus mehr ertragen …